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Radio TuVilla
Januar 2011 Oktober 2023
Beiträge & Artikel
Die Wüste Welle und das Wüstenradio :: Eine Radiopartnerschaft zwischen Tübingen und Villa El Salvador (Peru)
Seit 2006 gibt es eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen Tübingen und Villa El Salvador. Die aus einer Landbesetzung hervorgegangene Siedlung im Süden Limas ist mittlerweile eine Großstadt mit knapp einer halben Million Einwohner*innen. Zuvor entwickelten sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene gewisse Beziehungen: So unterhält das Tübinger freie Radio „Wüste Welle“ mit dem Community-Radio vor Ort, „Stereo Villa“, eine Radiopartnerschaft. Britt Weyde hatte die Gelegenheit, mit beiden Seiten über Geschichte und Gegenwart des peruanischen Radios sowie die Besonderheiten der Radiopartnerschaft zu sprechen.
Die geografische Lage in einem Talkessel in der Wüste sorgt dafür, dass das Radio „Stereo Villa“ über eine gute Reichweite in einem dicht besiedelten Gebiet verfügt. Die Geschichte des Radios ist eng mit der Geschichte von Villa El Salvador verknüpft. Seit den 50er Jahren hatte es Binnenmigration aus den Provinzen nach Lima gegeben. Als die Wohnsituation im Zentrum Limas immer unerträglicher wurde, kam es im Mai 1971 zur Besetzung staatlicher Ländereien im Süden Limas. Seit dem 1. Juni 1983 ist die ehemals wilde Siedlung ein offizieller Bezirk Limas. Der Stadtteil wird anfangs als Modellprojekt geplant: Jede organisatorische Einheit umfasst 16 Wohnblöcke mit je 24 Parzellen/Familien, macht insgesamt 384 Familien. Jede dieser Einheiten verfügt über ein eigenes Gemeindezentrum, wo sich die Nachbarschaft versammeln kann.
Jedes Zentrum bekommt von der UNESCO eine Lautsprecherbox finanziert, über die ein Programm abgespielt und darüber informiert wird, was in der Gemeinde passiert. Da dies die Selbstorganisation in Villa El Salvador vorantreibt, beginnen die Verhandlungen mit dem Ministerium für Verkehr und Kommunikation über ein richtiges Radio: eine UKW-Sendefrequenz für Villa El Salvador. Im Jahr 1989 ist es dann so weit und nach einem Jahr Probebetrieb nimmt „Radio Stereo Villa“ 1990 offiziell den Sendebetrieb auf.
Von Anfang an wird auf Beteiligung gesetzt: Die Leute bespielen das Radio mit ihren Programmen, Sportbegeisterte berichten über Fußball, Lehrerinnen gestalten Programme für Kinder, Frauengruppen, Jugendliche und Gemeindesprecher haben ihre eigenen Sendungen. Finanziert wird das Ganze über Werbung, von lokalen Unternehmen oder vom Staat, dem etwas höhere Werbekosten berechnet werden. „Allerdings werden wir vom Staat nicht besonders unterstützt“, erzählt Lita Ruiz Linares, die seit 1984 im Medienbildungsinstitut von Villa El Salvador aktiv ist. Mittlerweile ist sei Geschäftsführerin des Radios. „Wir Lokalsender scheinen nicht so wichtig zu sein.“
Offiziell gehört „Stereo Villa“ zu den Bildungsradios, die in Peru etwa 25 Prozent aller Sender ausmachen. Dem eigenen Selbstverständnis nach ist es ein Community-Radio, „schließlich sind wir für die Gemeinschaft da, berichten über Lokales, geben Leuten und Gruppen vor Ort einen Raum und stehen anderen Radios Comunitarias nahe“, erklärt Lita.
Alle zehn Jahre wird die Sendelizenz erneuert. „Manchmal dauert es ewig, bis wir die Lizenz erhalten“, klagt Lita. „Wir haben schon Probleme mit der lokalen Verwaltung gehabt. Schließlich beobachten wir kritisch die Lokalpolitik: die Bauvorhaben, die Korruption. Unsere Gemeindesprecher kritisieren die Fehler der Politik im Radio. Dann schauen die Politiker bei uns vorbei, unter dem Vorwand, unsere Lizenz zu überprüfen, oder ob wir in Sachen Katastrophenschutz und Corona-Auflagen alles richtig machen. Wir müssen in bürokratischer Hinsicht stets 100 prozentig korrekt sein, damit sie keinen Grund finden, um uns zu schließen. 1992 hat uns mal ein Bürgermeister unseren Eingang zuschweißen lassen. Aber der war ein bisschen verrückt und kurz danach selbst im Gefängnis“, lacht Lita.
Matzel Xander ist bei der „Wüsten Welle“ seit 1997 aktiv, unter anderem koordiniert er Praktikumsbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit. „Das Radio 'Stereo Villa' wird gehört und wahrgenommen, aber ähnlich wie bei uns sind sie personell und finanziell prekär aufgestellt“, hält Matzel seine Eindrücke von zahlreichen Besuchen vor Ort fest. „Ihre sehr engagierten Reporter*innen werden zum Teil bezahlt.“ Ein Medienbildungsinstitut mit einem Veranstaltungssaal, der auch an andere vermietet wird, ist an das Radio gekoppelt. „Das Herzstück ist aber das Radio, die lokale Berichterstattung seine Stärke. Sie erreichen Gebiete in Villa El Salvador, wo sonst niemand hinkommt.“
Matzel schätzt die Radio-Partnerschaft realistisch ein: „Die Kunst besteht darin, wirklich ein gegenseitiges Verhältnis aufzubauen. Unsere Leute können sich Reisen viel eher leisten. Dass Leute aus Villa El Salvador nach Tübingen kommen, funktioniert mit Unterstützung der Stadt, die schon mal die Flüge bezahlt hat. Das war wichtig, damit eine Freundschaft entstehen, Vertrauen aufgebaut und auf Augenhöhe zusammengearbeitet werden kann, woran man anknüpfen kann, selbst wenn es mal ein halbes Jahr Funkstille gab.
Wir haben seit Jahren mit derselben Ansprechpartnerin zu tun. Sonst würde das nicht funktionieren.“ Diese Ansprechpartnerin ist Lita Ruiz Linares. Sie war auch bereits in Tübingen zu Besuch. „Bei der Wüsten Welle erlebte ich, wie eine Gruppe von Geflüchteten eine Sendung gestaltete, Menschen aus den verschiedensten Weltregionen. Das fand ich toll. Aber dass die Wüste Welle keine Werbung sendet, fand ich total befremdlich. Wovon lebt ihr denn?! Matzel hat mir erklärt, dass die deutsche Regierung etwas Geld beisteuert und Mitgliedsbeiträge das Radio finanzieren. Hierzulande können dir die Mitglieder keinen einzigen Sol geben.“
Vor allem die letzten beiden Jahre waren sehr hart, erzählt Lita. „Wegen der Pandemie mussten wir Programme streichen und Arbeitsprozesse anpassen, das meiste lief über Zoom. Das Personal ist auf eine Stammbelegschaft zusammengeschrumpft. Pilar zum Beispiel ist für die Werbung zuständig, gleichzeitig ist sie Moderatorin, Reporterin, Produzentin und füttert Social Media. Und Smith hat genau so viele Aufgaben!“ Die Informatikerin Pilar Villaca arbeitet seit 2003 beim Medienbildungsinstitut von Villa El Salvador, seit 2008 beim Radio selbst. „Das Radio deckt viele Themen ab“, erzählt sie. „Von Bildungsfragen, über Ökologie, Sexualität bis hin zu Gewalt gegen Frauen.
Obwohl im Staatshaushalt Mittel für alternative oder Bildungsmedien vorgesehen sind, kommt leider nichts davon bei uns an. Der Staat beteuert stets, wie wichtig Bildung sei - warum schaltet er keine Werbung bei uns, die wir genau diese Ziele verfolgen? Auf dem Land geben viele Sender auf, weil sie keine Werbung, somit keine Mittel mehr erhalten. Dann werden sie von großen kommerziellen Radios aufgekauft.“
Smith Arevalo ist zuständig für Produktion und Programmgestaltung bei „Stereo Villa“. Er erklärt das Sendeschema: „Montags bis Samstags von morgens sieben bis mittags um eins haben wir Nachrichten, Reportagen, Gespräche, Interviews im Programm. Nachmittags läuft überwiegend Musik, unterbrochen durch Spots, Werbespots, aber auch von uns vorproduzierte Spots, die aufklärende Botschaften verbreiten, zum Beispiel Jingles gegen Gewalt.“ Sonntags läuft Musik und Werbung. Während der Pandemie beteiligte sich das Radio an der Ausstrahlung von Unterricht für Schüler*innen im Homeschooling: „Das Bildungsministerium hat uns die vorproduzierten Sendungen von 'Aprendo en Casa' geschickt, die wir montags bis freitags nachmittags gesendet haben“, erläutert Smith. Lita ergänzt: „Diese Programme senden wir bis heute, immer nachmittags. Wir haben keinen einen einzigen Sol dafür erhalten. Dafür gebe es keine Haushaltsmittel, hieß es.“
Zwischen 2012 und 2019 sind jeweils zwei Freiwillige aus verschiedenen Städten Deutschlands für ein Jahr bei „Stereo Villa“ aktiv gewesen. Entsendeorganisation war das Welthaus Bielefeld. „Bei ihnen wie bei uns gibt es ein Programm namens 'Tu villa', was symbolisch für unsere Radio-Partnerschaft steht“, erklärt Matzel. „Die Freiwilligen machen eine Sendung im Monat. Teile daraus verwenden wir für unsere Sendungen hier. Abgesehen davon ist der Programmaustausch eher sporadisch. Die Beiträge der Reporter vor Ort strotzen vor Details und müssen kontextualisiert werden, etwa wenn es um die politische Landschaft Perus geht. Die Berichte der Ehrenamtler*innen aus Deutschland hingegen sind schon durch deren Brille gelesen.“
Smith erzählt, wie er den Austausch erlebt hat: „An erster Stelle bereichern sie uns mit ihrer Kultur, sie bringen uns sogar ein bisschen Deutsch bei“, lacht er. „Wir organisieren Veranstaltungen mit ihnen, sie beteiligen sich an Sendungen, machen Fotos für das Radio, helfen bei Videoaufnahmen und Recherche, bestücken Social Media und begleiten unsere Reporter*innen bei Einsätzen in Villa El Salvador, etwa bei Protesten oder Gemeinschaftsküchen.“
Corona hat diesen Austausch zunächst leider gestoppt. Dafür erhielt Stereo Villa während der Pandemie Unterstützung von der Wüsten Welle, um Aufklärungsspots zu produzieren. „Teil dieses Projekts war ein wöchentliches Programm zu Gesundheitsfragen, in dem wir Ärzte interviewten und über Präventionsmaßnahmen aufklärten“, erläutert Lita. „Wir waren mit einem Übertragungswagen unterwegs, in ganz Süd-Lima, wo fast 2 Millionen Menschen leben. Auf dem Wagen hatten wir einen Lautsprecher, über den unsere Aufklärungsspots liefen. Wir verteilten Masken, Desinfektionsmittel und Seife, unter anderem an die Gemeinschaftsküchen, die in der Zeit massiv entstanden und bis heute tätig sind.“
So konnte das Radio in der schwierigen Pandemiezeit Präsenz zeigen. „Dieses Projekt hat uns geholfen, aktiv zu bleiben, selbst im striktesten Lockdown“, meint Lita. Und der war in Peru besonders hart.
Vor der Pandemie waren zehn Leute im Radio beschäftigt. Auch die Programme, die von anderen Gruppen produziert wurden, sind eingestellt worden, weil weder Publikumsverkehr noch Aktivitäten in Präsenz möglich waren. „Durch die Projektunterstützung von der Wüsten Welle konnten Leute aus dem früheren Sendebetrieb wieder eingebunden werden, für die Aufnahmen mit dem Ü-Wagen, die Produktion der Spots, die Aufklärungssendungen“, freut sich Lita.
Seit April 2022 normalisiert sich das Leben wieder. „Jetzt beginnen wir von vorne“, sagt Lita, „kontaktieren unsere Werbepartner und versuchen das alte Programmschema aufzunehmen. Wir möchten das soziale Gefüge wieder stark machen. So viel ist verloren gegangen, schon seit der Zeit unter Fujimori, wo viele soziale Organisationen aus Furcht ihre Aktivitäten einstellten. Aber auch heute steht die Lokalregierung der nachbarschaftlichen Organisierung feindselig gegenüber. Die Pandemie hat uns allen den Rest gegeben. Wir wollen als Radio beim Wiederaufbau eine Rolle spielen, unsere Türen öffnen, damit die Leute vorbeikommen und über ihre Anliegen sprechen. So viele schlimme Sachen passieren in unserem Land und auf der ganzen Welt, die Menschen müssen das erfahren. Die Anwohner*innen sollen wieder aktiv mitgestalten können. Dafür muss es Workshops geben, wo sie das Radiomachen lernen, damit sie Spaß daran haben und sich auszudrücken trauen. Gerade die jungen Leute - damit sie sehen, dass das eine Art ist, die Welt zu verändern.“
Das Interview mit Matzel Xander führte Britt Weyde am 29. Mai in Markelfingen, mit Lita Ruiz Linares, Pilar Pillaca und Smith Arevalo sprach sie per Zoom am 6. Juni.
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