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AKTUELL 18.04.2024
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Armgard Dohmel

Armgard ist „Vorkriegsware“ - so betitelte sie das Büchlein, das sie über ihre Kindheit und Jugend geschrieben hat. Sie wurde im Juli 1939 geboren, im damaligen „Sudetengau“.

Sie ist damit genau 20 Jahre älter als ich. Nicht auf den Monat genau – aber fast. „Jüngere Frauen befragen ältere“ ist das Konzept der „Radio Generations“. Daß ich mich ja wohl nicht mehr zu den „jüngeren Frauen“ zählen kann, bemerkte ich in einer Sitzung. Aber es gäbe ja sicher ältere als mich, wurde mir darauf geantwortet. Da fiel mir Armgard ein, eine der Autorinnen aus dem „Literaturfenster“, das alle zwei Monate im Lokalmagazin geöffnet wird. Bei dem Versuch, etwas zu ihrer Person im Internet zu finden, hatte ich entdeckt, daß sie einen Preis für ihr frauenpolitisches Engagement bekommen hatte!

Das Interview nimmt Bezug auf sämtliche bisherige Lebensabschnitte, die Kindheit im und nach dem zweiten Weltkrieg, Jugend und Ehe, ihr Engagement in der Frauenbewegung und ihr Leben als Rentnerin. Zum einfacheren Nachhören habe ich das Interview in einzelne, chronologische Abschnitte gegliedert (in der Sendung sind sie durch Musiktitel unterteilt, für die wir zwar eine Sende- , aber keine Internet-GEMA haben).

 

Es sind mehrere Dinge, die mich an Armgards Bericht beeindruckt haben. Zum einen finde ich, daß man hier sehen kann, wie der Krieg sich bis in das Innerste der Menschen hinein auswirkt – und zwar auf sehr individuelle Weise. Bei Armgard sind es die Folgen der Vertreibung: die Traumatisierung der verwitweten Mutter, die Ausgrenzung in der neuen Heimat, die sich zu einem wahren Mobbing des Flüchtlingskindes auswächst und die finanzielle Not in beengten Wohnverhältnissen, der die Mutter nicht zu entrinnen vermag.

Zum anderen fallen mir die Faktoren auf, die ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben immer wieder durchkreuzen. Mir liegt auch ihre Biographie vor, in der sie auf manche Punkte natürlich noch viel genauer eingehen konnte. Mich beeindruckt dabei ihre klare, präzise Sprache, wie genau sie die Dinge benennt. Manches habe ich wiedererkannt, obwohl ich 20 Jahre jünger bin, aber auch ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und meine Mutter stammte aus armen, katholisch geprägten Verhältnissen. Das Unbehagen über die „Krankheit der Frauen“, wie sie das Kapitel über die erste Menstruation überschrieb, habe ich ganz genau so erlebt, obwohl ich im Gegensatz zu ihr durch den Biologieunterricht wusste, was da auf mich zukam. Auch ich erinnere mich an eine übersteigerte Reaktion meiner Mutter, auf eine kindliche Äußerung, die mit Sexualität zu tun hatte. Bei Armgard war es die stolze Aussage, sie wisse jetzt, daß die Babys aus dem Bauch kämen, bei mir ein Schimpfwort in einem Knüttelreim, den die Jungen meiner Grundschulklasse sich zuriefen. Armgards Mutter strafte sie durch demonstratives sich Abwenden, meine hielt eine donnernde Verdammnispredigt, die mich geistig in die Ofenklappe kriechen ließ.

Das Verhalten ihrer Mutter und das Bildungsangebot ihrer Region beeinflussten Armgards berufliche Karriere. Die finanzielle Notlage und die damit verbundene Abhängigkeit von ihrer Mutter brachten sie dazu, ins Berufsleben einzusteigen, statt einen weiteren Aufstieg durch ein Studium anzustreben, das ihr aufgrund ihrer schulischen Leistungen nahe gelegt wurde. Letztendlich, so bemerkt sie in ihrer Biografie, war sie diejenige, die tippte, während andere, die in der Schule schlechter gewesen waren als sie, zu denjenigen wurden, die diktierten – und das erkennt sie durchaus auch als Ursache der beschränkten Möglichkeiten, die ihr als junger Frau in dieser Zeit geboten wurden.

Und doch gelingt es ihr, Kompetenzen zu erwerben. Sie erlebt das Vorbild der Fertigkeiten ihrer Mutter, die aus einer Zeit stammt, in der eine Bäuerin in der Lage war, fast den gesamten Eigenbedarf herzustellen, von der Tierhaltung und Gartenarbeit über die Zubereitung und Haltbarmachung der Speisen bis zur Herstellung der Kleidung. Sie verleibt sich alles an Bildung ein, dessen sie habhaft werden kann und sie erschließt sich einen Raum, in dem sie sich frei vom Mobbing der Dorfkinder betätigen kann. Fatalerweise ist es dieser Raum aber, der erneut ihr Streben nach einem selbstbestimmten Leben durchkreuzt: sie ist in der katholischen Kirche aktiv und die frommen Traktätchen, die von „reif werden und rein bleiben“ fabulieren, verhindern eine tatsächliche Aufklärung. Zwar hat sie ja schon als Kind erfahren daß die Babys im Bauch wachsen – aber wie man das verhindert, davon hat die junge Frau, die schließlich spät aber doch glücklich heiratet, keine Ahnung. Und sie hätte doch so gerne die Zweisamkeit genießen und reisen wollen! Stattdessen ist schon der erste unbeholfene Versuch ein „Volltreffer“ und die Mutterschaft da, ohne daß sie sich entscheiden konnte. Erst in ihrem Engagement in der Frauenbewegung fühlt sie die Freiheit, nach der sie suchte. Hier findet sie den Raum, in dem sie sich entfalten kann. Im Alter genießt sie nun die Freiheit, die ihr die finanzielle Unabhängigkeit nach einem tätigen Leben bietet, sowie die Achtung, die ihr als ältere Frau entgegen gebracht wird.

Das sind einige der Dinge, die mich beim Zuhören und bei der Lektüre ihres Buches bewegten. Aber hört selbst, was Armgard Dohmel zu erzählen hat – Euch fallen bestimmt auch noch viele andere bewegende und erhellende Momente auf!

 

 

 


Audio

Vertreibung

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Armgard_1_-_Vertreibung.mp3


Jugend und Beruf

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Armgard_2_-_Aufwachsen-_Aufbruch-_Ausbruch.mp3


Ehe und Frauenbewegung

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Armgard_3_-_Ehe_-_Frauenbewegung.mp3


Freiheit

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Armgard_4_-_Freiheit.mp3





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