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Globales Lernen On Air

Januar 2021 offen


Beiträge & Artikel

Peace Counts :: Tilman Wörtz

In der Sendung von Daniela Goeller und Verena Brenner geht es um das Thema „Frieden“. Um ins Gespräch zu kommen, wie man Frieden macht bzw. wie wir von Menschen lernen können, die sich für Frieden einsetzen, haben wir uns mit Tilman Wörtz einen sehr erfahrenen Interviewpartner eingeladen.

Tilman Wörtz ist Geschäftsführer der Reportage-Agentur Zeitenspiegel in Weinstadt, Chefredakteur des MUT Magazins und ein Journalist, der sich für konstruktiven Journalismus einsetzt. Eines der Projekte, das ihn schon lange begleitet ist Peace Counts. Peace Counts beschäftigt sich mit der Frage: Wie macht man eigentlich Frieden? In Porträts werden Friedensmacher*innen aus Krisenregionen überall auf der Welt vorgestellt. Aktueller könnte das Thema vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine kaum sein: Der Wunsch nach Frieden ist das Anliegen vieler Menschen und auch für uns in der Redaktion von Globales Lernen On Air.

Gefragt, was der Krieg in der Ukraine für Tilmans Arbeit als Journalist bedeutet, beschreibt er, wie Zeitenspiegel derzeit versucht, einen Beitrag zu leisten. Zum einen berichten seine Kollegen und er selbst von der ukrainischen Grenze bzw. aus der Republik Moldau. Gleichzeitig unterstützen sie Journalist*innen vor Ort dabei, ihre lebensgefährliche Arbeit zu machen. Ganz praktisch per Crowd-Funding für schusssichere Westen, Helme oder Erste-Hilfe-Kits oder auch bei der Platzierung ihrer Geschichten in den Medien. So ist es beispielsweise gelungen, dass eine Journalistin aus Mariupol ein vielgelesenes Meinungsstück in der Zeitung The Guardian publizieren konnte. Zeitenspiegel bietet Journalist*innen aus der Ukraine auch an, sich hier in Deutschland bei Zeitenspiegel anzudocken.

In Zeiten des Krieges werden oft die Antagonist*innen ins Zentrum des medialen Interesses gerückt. Die Zivilgesellschaft hingegen wird als dazwischenstehend dargestellt, ihr wird eine passive Rolle als Leidende zugeschrieben. Dies sind allerdings stereotype und verzerrte Darstellungen von Krisensituationen. Peace Counts richtet seit 2003 systematisch den Fokus auf zivilgesellschaftliche Akteure, die in Krisenzeiten eine aktive Rolle einnehmen, versuchen Probleme zu lösen und zum Frieden beizutragen. Berichte über ihre Erfahrungen dokumentiert Peace Counts in Wort und Bild und bringt diese Reportagen in die Mainstream-Medien ein.

Die so genannten Friedensmacher*innen sind oft beeindruckende Leute, die eine interessante Biographie voller Brüche haben. Zum Teil waren sie in der Vergangenheit selbst am gewaltsamen Konflikt beteiligt und haben dann aus ihren Erfahrungen gelernt. Sie sind sehr reflektiert und vorsichtig eine Seite zu verurteilen. Auch bei Menschen, die Leid verursachen, erkennen sie andere, „gute“ Anteile. Zudem sind sie oftmals pragmatische „Unternehmertypen“ – sie setzen sich ein Ziel und motivieren andere, dieses Ziel ganz praktisch zu erreichen. Ihre Arbeit ist nicht nur im Konflikt wichtig, sondern auf sie richtet sich auch die Hoffnung, wenn die militärische Lage sich wieder beruhigt hat, um den Wiederaufbau zu gestalten.

Tilman beschreibt eindrücklich, wie er und seine Kolleg*innen Kontakt zu den Friedensmacher*innen aufnehmen und welche Erfahrungen sie bei der Erstellung der Reportagen gemacht haben. Zum Teil lernten sie die Personen vor Ort zufällig kennen, zum Teil suchten sie aufbauend auf bestimmten Ansätzen konkret Personen. Für die Journalisten ist auch wichtig, ob die Geschichte funktioniert und geeignet ist, das Interesse von Menschen zu wecken. Dies passiert mitunter auch über Bilder, wobei es gar nicht so leicht ist, Frieden zu bebildern. Es ist auch schon vorgekommen, dass im Laufe der Arbeit deutlich wurde, dass eine Person sich doch als parteiisch herausstellte und gar kein Friedensmacher war.

Die Art Journalismus zu machen unterscheidet sich aus Tilmans Sicht nicht grundlegend von dem anderer Kriegsberichterstatter. Lediglich der Fokus auf Frieden als Thema ist besonders und auch die lange Dauer, über die sie an diesen Themen arbeiten. Trotzdem sind auch die Peace Counts Macher nicht davor gefeit, eine beschränkte Außensicht auf die Konflikte zu haben. Auch wenn sie nur kurz vor Ort sind, versuchen sie sich sehr gut vorbereiten, Menschen vor Ort einbeziehen, regelmäßig in die gleichen Gebiete zu fahren und so viel Zeit zu investieren, wie es eben möglich ist.

Aus dem Projekt Peace Counts, das von dem Journalisten Michael Gleich initiiert wurde und von Zeitenspiegel, der Culture Counts Foundation und der Berghof Foundation in Tübingen getragen wird, sind im Laufe der Zeit Folgeprojekte entstanden, die über die rein journalistische Arbeit hinaus gehen und eine andere Tiefe ermöglichen. Gemeinsam wurde eine Ausstellung und pädagogisches Begleitmaterial entworfen, mit der die Journalist*innen dann zurück in die Krisenregionen gefahren sind, um mit Menschen vor Ort in Austausch zu kommen.

In diesem Zusammenhang haben sie dann zum Teil auch die Friedensmacher*innen wieder getroffen. Außerdem wurden Workshops u.a. mit Journalist*innen durchgeführt. Die dritte Station der Reise war Abidjan in der Côte d’Ivoire, wohin Peace Counts vom Goethe-Institut eingeladen worden war. Die ivorischen Journalist*innen wollten die Idee übernehmen und so entstand ein Projekt für lokale Medien vor Ort. Es wurden Reportagen entwickelt und danach eine Reise mit einem Geschichtenerzähler organisiert, der den Menschen mit Hilfe von Fotos die Reportagen erzählt hat. Dies wurde wiederum im Radio übertragen. Erstmals kooperierten so Rebellensender mit dem staatlichen Radio in der Côte d’Ivoire.

Im Anschluss entstanden die Journalistenschule Studio-École Mozaïk, die inzwischen sogar einen eigenen Radiosender hat und von lokalen Akteuren vor Ort erfolgreich geführt wird.

Über die Zeit wurde deutlich, wie wertvoll es sein kann, dass die Friedensmacher*innen auch untereinander in den Austausch kommen. So wurde vor sechs Jahren der Global Peacebuilders Summit ins Leben gerufen, auf dem erfahrene und jüngere Friedensmacher*innen sich vernetzen und sich gegenseitig stärken können. Die Arbeit wird auch von Seiten der Politik wahrgenommen. Die neuen Videokonferenztools sind eine wertvolle Ergänzung, die die Vernetzung weltweit erleichtern.
Menschen, die sich für den Frieden engagieren möchte, empfiehlt Tilman, sich zu informieren, was in der eigenen Kommune an Projekten besteht. Wenn man Initiativen in Krisenregionen direkt unterstützen möchte, ist die Plattform Peace Direct eine gute Anlaufstelle.


Audio

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Peace_Counts_Tilman_Woertz.mp3



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