Login

 Infos und Regionales


LOKALMAGAZIN


Beiträge & Artikel

Jugendarmut sichtbar machen

Karin, Parisa, Sally, Lena und Margarita berichten von ihren Erfahrungen und Berührungspunkten mit dem Thema Armut in Tübingen .

Karin ist Sozialarbeiterin bei der Kit-Jugendhilfe in Tübingen und arbeitet dort in einem Projekt, welches sich mit Armutsprävention beschäftigt. Je mehr sie sich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr fiel ihr auf, wie sich das Thema mittlerweile normalisiert hat. Man müsse das Thema skandalisieren, weshalb der Jugendhilfeträger jetzt mehr in Richtung politischer Kampagnenarbeit agiert, statt nur die Lücken zu stopfen, die die Armut hinterlässt.

Parisa ist an mehreren Projekten zum Thema Jugendarmut beteiligt, zu denen sie über den Mädchentreff gekommen ist. Sie findet, dass Jugendarmut oft nicht gesehen wird, gerade weil Deutschland so ein reiches Land ist: "Deswegen machen wir verschiedene Projekte, dass gesehen und gehört wird, dass es vielen Jugendlichen noch schlechter geht als es aussieht."

Sally ist bei der Kit Jugendhilfe und selbst von Jugendarmut betroffen. Sie wohnt in einem betreuten Wohnen und macht gerade ihr Abitur. Neben ihrem Schulalltag muss sie für sich selbst sorgen und sich selbst um ihre Finanzen kümmern, da ihre Eltern sie finanziell nicht unterstützen können. Vor allem auch die steigenden Lebensmittelpreise machen ihr dabei zur Zeit sehr zu schaffen.

Lena ist Sozialpädagogin und arbeitet im Mädcheninformations- und Beratungszentrum "Mädchentreff e.V.". Gleichzeitig arbeitet sie freiberuflich an Projekten zum Thema Diskriminierung und Armut. Was Jugendliche die von Armut betroffen sind, durchmachen müssen, könne sie gut nachvollziehen: "Ich bin selbst mit wenig Geld aufgewachsen und weiß daher genau, wie das ist."

Margarita ist ebenfalls selbst in Armut aufgewachsen. Damals habe sie es allerdings noch nicht mit dem Begriff "Armut" verbunden. Doch durch soziokulturelle Unterschiede zu Mitschüler_innen verstand sie immer deutlicher, dass sie von Armut betroffen war. Ihr fiel später auf, dass Kinderarmut oft heruntergespielt wird und das Thema kaum präsent ist, weshalb sie sich wünscht, dass das Thema schon in der Schule behandelt wird. "Ich wünsche mir wirklich, dass es irgendwann gesellschaftlich akzeptiert wird, dass Menschen, die zum Beispiel Hartz 4 beziehen oder nicht zu 100% arbeiten können, nicht daran schuld sind und diese Menschen auch nicht von der Politik diskriminiert werden dürfen!", meint  Margarita.

Projekte sind eine gute Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen und über das Thema aufzuklären. Allerdings müsse man "sehr sensibel damit umgehen und die Projekte auch so aufbauen, dass sich keiner outen muss, weil es ja schon auch ein sehr schambehaftetes Thema ist.", sagt Lena. Denn leider kursieren heutzutage immer noch viele Mythen wie: "Wer arm ist, hat sich nicht genug angestrengt und ist selbst schuld daran!". Betroffene Jugendliche glauben diese Mythen oft und geben sich dann selbst die Schuld für ihre Situation. 

Karin kritisiert, dass Jugendliche oft von Sozialarbeiter_innen in die Armut  hineinerzogen werden. Ihnen werde oft nur gezeigt, wie sie jetzt mit der Armut leben können, welche dadurch für sie zur Normalität wird: "Darum finde ich es wichtig, an den Punkten Empörung zu zeigen und den Jugendlichen im Gespräch zu sagen, dass das eben nicht in Ordnung ist."

Bei dem Gedanken, wie man am besten über das Thema ins Gespräch kommen könnte, kam Lena die Idee zu einem Filmprojekt. Dabei entstand der Kurzfilm "Ich bin stark", welcher am Mittwoch bei der Veranstaltung "Armut zur Sprache bringen" in der Westspitze erstmals präsentiert wird.

Gemeinsam mit Parisa und vier anderen jungen Frauen arbeitete sie an dem Filmprojekt. Dabei sei es schwierig gewesen, Teilnehmer_innen dafür zu finden, was ebenfalls verdeutlicht, wie schwierig es ist, über das Thema ins Gespräch zu kommen. "Das Ziel dabei ist aber nicht, einen super coolen Film zu produzieren, sondern wir wollen diesen Gruppenprozess haben, darüber sprechen, uns gegenseitig stärken und überlegen, was uns wichtig ist, zu diesem Thema zu zeigen!", sagt Lena.

Dadurch, dass alle Teilnehmerinnen zufällig auch eine eigene Fluchterfahrung haben, handelt der Film über die Erfahrung von absoluter Armut auf der Flucht bis hin zur relativen Armut nach dem Ankommen in Deutschland. Zum Titel des Films sagt Parisa: "Wir wollten mit dem Titel hauptsächlich zeigen, dass wir es schaffen können, weil wir ja alle viel durchgemacht haben."

"Armut macht psychisch krank!, meint Margarita, als sie berichtet, wie es für sie war, in Armut aufzuwachsen. Sie entwickelte eine Scham gegenüber ihrer Familie, da sie von Sozialhilfen abhängig waren. Auch dass sie einige Angebote wie zum Beispiel das Spielen eines Musikinstruments nicht wahrnehmen konnte, machte ihr sehr zu schaffen. Außerdem ist es für Menschen, die in Armut leben oft schwierig, an das Geld zu kommen, was ihnen eigentlich zusteht. "Man wird diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt und hat nicht die gleichen Chancen wie andere.", fügt Margarita hinzu.

Jugendliche in Armut sind großen Belastungen ausgesetzt. Lena kennt das aus eigener Erfahrung: "Wenn man ständig arbeiten muss und schauen muss, wie man über die Runden kommt, ist es einfach sehr viel schwieriger, eine Ausbildung, Schule oder ein Studium zu schaffen." Sie ist begeistert von den jungen Frauen mit denen sie arbeitet, die trotz ihrer Situation enorm viel leisten: "Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Familien, machen die Termine beim Jobcenter, beantworten die ganze Post, gehen nebenher noch zur Schule und versuchen, Freundschaften zu pflegen. Sie haben so viel zu leisten, was oft nicht wirklich anerkannt wird."

Auch Karin bewundert das sehr und fügt hinzu: "Es ärgert mich einfach grundlos, wenn Boris Palmer, der Tübingen repräsentiert dann bei Markus Lanz behauptet, Menschen aus Syrien würden lieber Hartz 4 beziehen als arbeiten gehen, was defakto nicht stimmt! Ich kenne niemanden, der lieber Hartz 4 bezieht als arbeiten zu gehen."


Audio

Download (15,9 MB)
Jugendarmut_Interview_kurz.mp3


Download (70,94 MB)
Jugendarmut_Interview_lang.mp3



Bilder





Freies Radio Wüste Welle, Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen :: +49 7071 760 337 :: buero@wueste-welle.de