Login

 Infos und Regionales


LOKALMAGAZIN


Beiträge & Artikel

Live-Bericht von den ägäischen Inseln :: „Deutschland hat eine Vorreiterrolle und noch viel Luft nach oben“

Christian Schmidt setzt sich bei der Organisation Europe Must Act und bei der nationalen Unterorganisation Germany Must Act für die Schließung der Flüchtlingslager an den europäischen Außengrenzen ein. Seit einigen Wochen ist er nun auf Samos um sich ein Bild von der aktuellen Situation der Geflüchteten zu machen und um die einzelnen Hilfsorganisationen miteinander zu vernetzen.

Die Organisation Europe Must Act gründete sich letztes Jahr im Frühling, als sich die Situation auf den ägäischen Inseln durch Überfüllung, Brände und Corona massiv verschlimmerte. Die Initiatoren waren Mitarbeiter*innen von NGOs, die vor Ort arbeiteten. Der Fokus verschob sich dabei von der Verbesserung der humanitären Lage in den Lagern hin zur politischen Arbeit – die Lager sollten ganz abgeschafft werden. Die europaweite Organisation ist auf verschiedenen Ebenen aktiv: Das EU-Parlament soll erreicht werden, damit eine europäische Lösung entwickelt wird und das Thema nicht unter den Teppich gekehrt werden kann. Einmal die Woche treffen sich Menschen aus den verschiedensten Ländern auf Zoom, um sich über ihre Projekte auf dem Laufenden zu halten und sich wo es möglich ist zu unterstützen. Auf nationaler Ebene haben sich die „national chapters“ entwickelt. Germany Must Act setzt sich in verschiedenen Projekten für die Sichtbarkeit der – politisch gewollten – humanitären Katastrophe ein. Auf Social Media Kanälen wird über die Entwicklung der aktuellen Situation berichtet und auch geflüchtete Menschen bekommen so einen Rahmen, über ihre Erfahrungen zu erzählen. Ziel der Organisation ist es zu informieren und die Mitte der Gesellschaft zu erreichen - der öffentliche Druck auf die Politik soll so steigen. Auf lokaler Ebene finden regelmäßig Aktionstage statt, die zum Beispiel mit der Seebrücke zusammen organisiert werden. Aber die Politik sei kein Dienstleister – in einer Demokratie könne jede und jeder etwas tun, auch in den kleinsten Schritten. Ob Kochen, Musik oder Schreiben einem liege – es gebe immer Möglichkeiten, sich einzusetzen. Besonders auf lokaler Ebene sei es viel einfacher als man denkt.

Die deutsche Gesellschaft ist aus Christians Perspektive ganz unterschiedlich informiert. Während die Spendenbereitschaft im letzten Jahr und gerade zu Beginn der Pandemie sehr gestiegen ist, wissen auch viele gar nicht, dass es keine staatliche oder europäische Seenotrettung im Mittelmeer gibt. Ganz im Gegenteil trägt die staatliche Küstenwache der Grenzstaaten sowie die europäische Grenzschutzagentur Frontex maßgeblich zur Abschottungspolitik bei. So werden Schiffe in Seenot nicht gerettet, sondern oft wieder in die Türkei und an die nordafrikanische Grenze zurückgebracht – oder einfach wieder ins offene Meer. Was fehlt, sei eine unabhängige Beobachtungsstelle, die Organisationen wie Frontex beobachte und es ermöglicht, dass sie für ihre Menschenrechtsverletzungen in Verantwortung gezogen werden können. Aber nicht nur Menschenrechte werden verletzt – auch das europäische Asylrecht und die juristischen Bestimmungen zum Umgang mit den Geflüchteten in den Lagern werden nicht eingehalten.

Die Entwicklung vor Ort mitanzusehen und mit den Geflüchteten über ihre Situation zu sprechen, koste viel Kraft. Vielen sieht man ihre Verzweiflung an: Nach Jahren in den Camps werden viele abgeschoben – in die Türkei aber genauso auch wieder nach Afghanistan. Die europäischen Gelder zur Verbesserung der humanitären Lage wurden zu großem Teil in den Bau von Mauern gesteckt. Die neuen Lager glichen nun Gefängnissen: Alle Geflüchteten sind registriert und haben einen kurzen Zeitslot pro Tag, an dem sie die Lager verlassen dürfen. Trotzdem bezeichnet sich Christian als einen hoffnungslosen Optimisten – und auch mit Grund. Einerseits gebe es in den Lagern auch immer noch viel Initiativen von den Bewohner*innen selbst – zum Beispiel wurde gerade eine Schule gegründet. Weitere Projekte sind ein Gartenprojekt und "Low-Tech with Refugees"

Und auch auf europäischer Ebene gibt es Bewegung: Ende Juni trafen sich Bürgermeister*innen aus circa 50 europäischen Städten auf der Konferenz „From the Sea to the City“ in Palermo. Sie gründeten die Allianz Sicherer Häfen und machten sich für mehr Teilhabe an der Migrationspolitik stark. Denn die Bereitschaft zur Aufnahme geflüchteter Menschen ist vielen Kommunen hoch – es scheitert nur an der Blockade auf europäischer und nationaler Ebene.

Deutschland hat in der Aufnahmebereitschaft vergleichsweise eine Vorreiterrolle, aber in Relation zu den finanziellen Möglichkeiten des Landes auch noch extrem viel Luft nach oben. Die Arbeit im Migrations- und Asylbereich ist eine langfristige – nichts verbessert sich von heute auf morgen. Aber wenn das Wissen und die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft steigt und jede*r ein bisschen was tut, könne sich viel verändern. 


Audio

Download (77,71 MB)
GermanyMustAct_Interview_lang.mp3


Download (11,76 MB)
GermanyMustAct_Interview_kurz.mp3



Bilder





Freies Radio Wüste Welle, Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen :: +49 7071 760 337 :: buero@wueste-welle.de