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Christina Möller und Markus Rieger-Ladich :: Von den Hürden des Bildungsaufstiegs

Beim Institutskolloquium "Wiederkehr der Klasse? - Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven auf soziale Ungleichheit" vom Ludwig-Uhland-Instituts sprachen Markus Rieger-Ladich und Christina Möller über Bildungsaufstieg und wie Klassen-Verhältnisse Universitäten und Schulen wesentlich prägen.

Das Institutskolloquium am Ludwig-Uhland-Institut ist ein relativ offenes Format und somit auch gut geeignet, um soziale Ungleichheiten im Bildungsbereich zu diskutieren. In der Reihe "Wiederkehr der Klasse?" wurden Markus Rieger-Ladich aus der Erziehungswissenschaft und Christina Möller aus der Soziologie eingeladen.

Christina Möller stellt zunächst den sogenannten "Bildungstrichter" vor. Das ist ein Schaubild, das anzeigt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von Kindern aus akademischen und aus nicht-akademischen Familien ist, im Bildungsbereich weit zu kommen. Bei Kindern aus nicht-akademischen Familien kommen nur 21 Prozent bis zum Studium, nur ein Prozent erreichen den Doktor-Grad. Kinder aus akademischen Familien kommen zu 74 Prozent bis zum Studium, 10 Prozent bis zum Doktor-Grad. Akademisch meint hier, dass mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss hat. Die Verläufe seien also in Bezug auf die soziale Herkunft sehr ungleich.

Möller, die selbst Hauptschülerin war und mittlerweile Vertretungsprofessorin für Soziologie an der FH Dortmund ist, hatte zum Thema Geschlecht und Hochschule geforscht. Sie konzipierte eine Studie zur sozialen Herkunft von Professor*innen, da dazu bis dahin kaum Daten erhoben waren. Rund 11 Prozent von diesen stammen aus Arbeiter*innen-Verhältnissen oder aus Familien einfacher Angestellter oder Beamter, über ein Drittel dagegen sind aus Familien akademischer Führungskräfte, Beamter des höheren Dienstes. Wenn man die Zeit zurückverfolgt, in der die befragten Professor*innen ihre Bildungslaufbahn begannen, so waren 50-60 Prozent der Leute Arbeiter*innen. Im Verhältnis sind diese also deutlich unterrepräsentiert auf Ebene einer Professur.

Die aktuelle Perspektive sieht nach Möller auch alles andere als hoffnungs-erregend auf: derzeit sei eine weitere soziale Schließung an den Universitäten zu beobachten. Dies hänge auch mit der Trennung in Exzellenz-Universitäten und jene ohne diese Auszeichnung zusammen. Auch die Professor*innen, die den Bildungsaufstieg gemeistert haben, würden nicht die gleiche Selbstverständlichkeit mitbringen wie ihre Kolleg*innen. So arbeiten Aufsteiger*innen oft mehr, um das scheinbare "Defizit" der sozialen Herkunft auszugleichen. Auch Scham bezüglich der eigenen Herkunft sei zu beobachten.

Markus Rieger-Ladich ist seit 2013 Professor der Erziehungswissenschaft in Tübingen im Bereich der Allgemeinen Pädagogik. Er berichtet von seinen Erfahrungen, dass Herkunft und Machtverhältnisse an Universitäten oft nicht reflektiert werden. Er selbst kommt zwar nicht aus einer Arbeiter*innen-Familie, ist aber erster Akademiker in seiner Familie.

Ein wichtiger Theoretiker bezüglich des Themas Bildungsaufstieg, da sind sich beide Referent*innen einig, ist Pierre Bourdieu. Bourdieu meinte, dass es verschiedene Kapital-Sorten gäbe - nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch soziales und kulturelles. Nicht nur ökonomisches Eigentum bestimme also den Zugang zu Ressourcen in der Gesellschaft, sondern auch soziale Kontakte. Auch der Bildungsgrad oder das erlernte Verhalten in gesellschaftlich repräsentativen Situationen seien von Bedeutung. Wer weiß, wie man sich in der Oper zu verhalten hat, welche Sprechweisen und Themen in gehobenen Kreisen akzeptiert sind und wie Kleidung und Essen zu gestalten sind, ist hier im Vorteil. Die herrschende Kultur präsentiert sich dabei als einzig legitime, wer sich nicht in ihrem Sinne auszudrücken und zu verhalten weiß, sieht sich sozialen Ausschließungen ausgesetzt.

Rieger-Ladich wählt aus Zugang unter anderem literarische Werke von Autor*innen, die sich ihrer eigenen Herkunft zuwenden, um Erkenntnisse zu sammeln. Auf diese Erkenntnisse sei die Erziehungswissenschaft "dringend angewiesen".

Soziale Klasse würde unter anderem wegen der Sorge um den Rechtsruck stärker thematisiert, so sind sich beide Autor*innen einig. Dass soziale Schichten, die sich traditionell auch mit Migrant*innen solidarisierten, teilweise rechte Parteien wählen, besorgt auch Menschen aus der (linksliberalen) bürgerlichen Schicht. Das Thema von Klasse sei zudem nur in Deutschland zwischendurch von der Bildfläche verschwunden, in England und Frankreich beispielsweise wäre durchgängig über Klassenverhältnisse gesprochen worden. So ließe sich die Frage der Kolloquiums-Reihe "Wiederkehr der Klasse?" in Deutschland etwa folgendermaßen beantworten: Der Begriff "Klasse" erlebt in Deutschland eine Wiederkehr. Wenn man betrachtet, dass in anderen Ländern durchweg von Klasse gesprochen wurde, lässt sich vermuten, dass das Thema Klasse real auch in Deutschland nie verschwunden war. Man hatte es nur zu verdrängen versucht. Nach Rieger-Ladich "hören wir auf, uns in die Tasche zu lügen" oder beginnen zumindest damit. Alles andere hätte fatale Folgen, denn nach Möller kann das Bildungssystem so nicht weiterlaufen, weil zu viele Menschen ausgeschlossen werden.


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EKW-Kolloquium_ueber_soziale_Ungleichheit_an_der_Universitaet.mp3


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Riekerladich_ueber_die_Notwendigkeit_neuer_Klassenbegriffe.mp3


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Neue_Kulturwissenschaftliche_Perspektiven_auf_Soziale_Ungleichheit_kurz.mp3


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RiegerLadich_Moeller_Wiederkehr_der_Klasse.mp3



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