Infos und Regionales
LOKALMAGAZIN
Beiträge & Artikel
David Holinstat :: Die Entmystifizierung des Judentums in Deutschland
'Meet a Jew' ist eine Organisation unter dem Dach vom 'Zentralrat der Juden', in der ca. 350 Ehrenamtliche in Deutschland aktiv sind - so auch David Holinstat für die Region. Der Organisation ginge es nach ihm darum, das Judentum in Deutschland zu entmystifizieren und Begegnungen mit Jüd*innen möglich zu machen. Denn das aktuelle Judentum sei in Deutschland recht unbekannt - unter anderem, da in Deutschland derzeit wenige Jüd*innen leben würden. "Manche Leute denken, alle jüdischen Männer haben einen sehr langen Bart und tragen einen schwarzen Anzug und einen großen Hut." Vorurteilen könne man dagegnen begegnen, indem man sich zeigt. 'Meet a Jew' ist aus den beiden Organisationen 'Rent a Jew' und 'Likrat' entstanden, Holinstat ist seit 2018 dabei.
Bei 'Meet a Jew' versuchen die Ehrenamtlichen dabei immer zu zweit zu kommen, denn nur so könnten sie der Vielfalt jüdischen Lebens einigermaßen gerecht werden: "zwei Juden, drei Meinungen". Die Erlebnisse in den Begegnungen seien "eigentlich sehr positiv". Standardfragen, die gestellt würden, bezögen sich auf Religion und Rituale, die Rolle der Frauen im Judentum, aber auch Israel, Antisemitismus-Erfahrungen und das normale Leben von jüdischen Menschen in Deutschland würde die Leute interessieren.
Das von jüdischem Leben dagegen in den Medien herüberkäme, sei kein jüdischer Alltag und auch in den Schulen würde ein Bild Jüd*innen vertreten, die allesamt streng alle Regeln befolgen und alle Stellen der Thora kennen würden. David Holinstat dagegen bezeichnet sich als "nicht super-religiös", seine Eltern waren überhaupt nicht religiös. Er trage beispielsweise keine 'Kippa' im Alltag und sei trotz offenem Umgang als Jude in der öffentlichen Wahrnehmung nicht sichtbar. Das Judentum stelle auch nur einen Teil seiner Identität dar.
Sein eigenes Interesse am Judentum wurde durch eine Neugierde auf seine eigenen Wurzeln geweckt. Jom Kippur ist das jüdische Lieblingsfest von dem in den USA aufgewachsenen und seit 40 Jahren in Deutschland lebenden Interviewgast. Dieser Feiertag ist ein Tag der Versöhnung, an dem 24 Stunden streng gefastet wird - kein Essen und auch kein Trinken ist an diesem Tag Gebot. Stattdessen konzentriert man sich darauf, was man im vergangenen Jahr gemacht hat, was nicht in Ordnung war. Im Zentrum steht die Versöhnung mit Gott und der 'Blick nach vorne'. Erfrischend empfindet David Holinstat es, dass man an diesem Tag soviel Zeit hat, zurückzublicken.
Daneben gäbe es natürlich unter anderem den 'Sabbat', der als Ruhetag von Freitagabend bis Samstagabend dauert und der mit bestimmten Ritualen wie dem Anzünden von Kerzen, Segnungen und einem Festessen begangen wird. Holinstat selbst schafft es nicht immer, diesen Tag einzuhalten. Unter anderem gibt es auch das Purim-Fest, das ein bisschen an Fasching erinnert und in dem die Rettung der Juden im Achämenidenreich gefeiert wird.
Die jüdische Gemeinde Württemberg umfasse etwa 3000 Mitglieder*innen - Synagogen gäbe es in Stuttgart, Ulm und Esslingen, gemietete Räume unter anderem in Reutlingen. 2/3 der Mitglieder wohne im Großraum Stuttgart. Dabei gäbe es eine orthodoxe und eine progressive Strömung, die unterschiedliche Gottesienste feiern, danach aber in der Regel zusammen essen. In Stuttgart gäbe es dabei ein großes Gemeindezentrum mit unter anderem jüdischem Kindergarten, Jugendzentrum, altersgerechten Wohnungen und Raum für Konzert und Theater.
Humor sei für viele Jüd*innen eine Lebensstrategie bei all dem Leid, das ihnen in der Geschichte angetan wurde. Ein Anker sei es, vor allem über sich selbst lachen zu können. Dabei gäbe es natürlich ernste Themen. So sei die Hemmschwelle in Deutschland leider stark gesunken, antisemitische Aussagen zu tätigen. David Holinstat würde sich zwar einfach offene Synagogen für alle wünschen, aktuell sei es unter diesen Umständen allerdings sinnvoll, dass man sich anmelden müsse. Der gesellschaftliche Trend ginge leider "in die falsche Richtung". Auch den Staat Israel mit den Jüd*innen gleichzusetzen gehe oft in diese Richtung: nicht alle Jüd*innen sind Isralis, nicht allle Israelis Jüd*innen. Israel ein Existenzrecht einzuräumen bedeute dabei nicht, der Regierung bei all ihren Entscheidungen zustimmen zu müssen. Wer allerdings die politischen Entscheidungen in Israel mit ganz anderem Maß messe als Regierungsentscheidungen anderer Staaten, urteile problematisch. Der politische Alltag in Israel sei zudem nicht auf den Nahost-Konflikt beschränkt.
Der Kampf gegen Antisemitismus sei allerdings nicht Aufgabe bei 'Meet a Jew', da Antisemitismus kein jüdisches, sondern gesellschaftliches Problem sei. Die Teile der Gesellschaft, die die Welt in "Wir" und "die Anderen" unterteilen und Feindbilder sowie Sündenböcke als Ausflüchte kreieren, sich nicht mit den wirklichen Problemen und der eigenen Verantwortung auseinandersetzen zu müssen, verbreiteten antisemitische Erzählungen. "Ich habe von dem Reichtum nichts gesehen", den Antisemit*innen der kleinen Gruppe von Jüd*innen in der Gesellschaft zuschreibt, so Hollinstat in leichter Ironie.
Ein Zeichen dagegen sei beispielsweise die symbolische Unterstützung, unter anderem auch vom Gemeinderat und vom Oberbürgermeister, am 9. November in Tübingen mit seiner "braunen Geschichte" bei einer jährlichen Erinnerung an die Zerstörung der Tübinger Synagoge. Auch 1700 Jahre Jüd*innen in Deutschland zu feiern sei ein wichtiges Zeichen, da die Geschichte dieser meist auf die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 beschränkt würde. Auch wichtig sei - und dafür stehe eben 'Meet a Jew' - zu zeigen, wie jüdisches Leben in Deutschland heute stattfindet - und, dass es überhaupt stattfindet.
Audio
InterviewHolinstat_Kurz_version.mp3
Download (75,56 MB)
Interview_Holinstat_Lange_version.mp3
KATEGORIEN
Autoren
- wuestewelle
- voncroy
- ww_lokalmagazin
- SamuelW
- Katerina
- Matzel
- SilkeB
- sarita
- Kulturforum
- elvira
- HellVanSing
- simone91
- Rebecca_Metzker
- LisaD
- VincentEgerter
- Dominic
- Dine
- julle
- CarinaDiana
- JelloMuehsam
- leinad_rb
- Vlora
- Tristan
- mxib
- Luna_
- dubeku
- Tara
- Lily
- LukasB
- maggy
- Lilian12
- LauraRa
- RaffaelS
- JKaiser
- DavidSKirsch
- justinhumm
- Dominik1
- pilivargas
- MiGK
- SunaG
- anna_frueh
- BellaH
- LiaB
- LisaBaeuerle
- ZenoScheffel
- Maxa
- Nathalie127
- fflora
- dread_kat
- PenelopeZoe
- hanness
- V_Jawor
- kai_bendz
- Hannnah
- chri_mai
- Luiza
- Frederica
- aroloff
- KANDAKEKWEENSIZE
- MalbanaKwalyII
- Mijau
- carlarita98
- Sanni
- LisaR
- InaH
- MaschaH
- Bilge
- KatharinaB
- helgard
- ThomasR
- WiebkeJ
- Farah_Serghani
- MarleneK
- SenyaB
- SvenjaG
- katharinamansour
- Linda98
- christenl
- leoniedanylak
- annamohl
- akulbert
- No0ne
- elias14
- Maren_Schrabback
- Jessy20
- CaroAnnelie
- Pauline97
- Katharina_1999
- LouisLory
- Luki
- hannahm
- Helenana
- LindaWelle82
- ole_s
- Nonodiecoole
- HannahBunz
- eli_2024
- tosia
- Sandra_24
- joeljaupart
- LiaTabea
- Aron_Pour_Nikfardjam
- Vivian_Viacavag
- Tommm
- Maxim225Herrmann
- ulla_schaffert