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Videoüberwachung der Tübinger Wohnprojekte

Die Tübinger Wohnprojekte Schellingstraße und LU15 wurden im Juli 2016 einen Monat lang illegal videoüberwacht. Moritz und Chaim von der Schelling berichten von der illegalen Überwachung der Wohnprojekte, den Folgen und der Brisanz der Überwachungsthematik.

Im Juli 2016 kam den Bewohnern der Schelling das Gerücht zu Ohren, dass eine Kamera auf die Schelling gerichtet worden sein soll. Dann erzählte ein Nachbar von einem Besuch der Polizei, bei dem er der Installation einer Kamera in seinem Grundstück zustimmen sollte. Der Nachbar lehnte dies natürlich ab. Die Fragen, die sich den Schellingbewohnern daraufhin stellten, liegen auf der Hand. Sie gingen an Presse und veröffentlichten die Tatsache der - wie zunächst geglaubt - versuchten Überwachung. Bei Nachfragen bei der Polizei wurde man auf "laufende Ermittlungen" verwiesen und im Dunkeln stehen gelassen. Die Anfrage des Landesdatenschutzbeauftragten an Staatsanwaltschaft und Polizei wurde durch dieselben massiv verzögert. So bestätigte sich erst jetzt der Verdacht. Der gesamte Eingangsbereich der Schelling wurde einen Monat lang im Sommer 2016 in den Abendstunden von 22-6 Uhr videoüberwacht.

Der Anlass für die Überwachung waren mehrere brennende Autos in der Süd- und Weststadt. Aufgrund dieser Vorfälle leitete die Polizei Ermittlungen gegen Unbekannt ein. Die Schelling-Bewohner wurden wohl als Verdächtige gehandelt und videoüberwacht. Linke Szene, Wohnprojekt - die üblichen Verdächtigen eben. Welche Erkenntnisse sich die Polizei durch die Überwachung erhoffte, ist schleierhaft.

Die Überwachung ging ohne richterliche Anordnung vonstatten und dauerte länger als 24 h. Somit ist die Überwachung illegal gewesen. Abgesehen davon hätten die Bewohner informiert werden müssen. Polizei und Staatsanwaltschaft rechtfertigten den Eingriff folgendermaßen: Sie hätten unterschiedliche Rechtsauffassungen gehabt - "da haben wir dazugelernt". Die Polizei sagte außerdem à la NSA, dass sie das Datenmaterial ja nicht ausgewertet hätte, es also gar keine Überwachung gegeben hätte. Die Benachrichtigung der 110 Bewohner der Schellingstraße wäre zudem ein zu großer Aufwand gewesen.

Die Rechtfertigung wurde noch paradoxer, als die Staatsanwaltschaft dann gegenüber des Tagblatts äußerte, dass die Daten doch ausgewertet wurden. Diese Aussage revidierte sie vor dem Landesdatenschutzbeauftragten dann wiederum. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Landesdatenschutzbeauftragten doch noch zugegeben, dass die Überwachung rechtswidrig war. "Wie arbeitet die Staatsanwaltschaft eigentlich?", fragen sich nicht nur Moritz und Chaim.

Die Frage, ob noch weitere Wohnprojekte überwacht wurden, verneinte der Chef der Staatsanwaltschaft zunächst: "es gab keine weiteren Videoüberwachungen". Ein paar Tage später nahm er die Aussage zurück und gab zu, dass die LU15, ebenfalls ein Tübinger Wohnprojekt im Mietshäuser Syndikat, auch überwacht wurde.

Die Schelling ist ein Dach für verschiedene Initiativen. Dazu gehört eine Fahrradwerkstatt, ein Umsonstladen, eine linke Bibliothek, ein Infoladen, sowie Vorträge und verschiedene Kulturveranstaltungen. Der Eingriff richtete sich also nicht nur gegen die Bewohner der Wohnprojekte, sondern auch gegen Passanten und die Besucher der Wohnprojekte und der zugehörigen Initiativen und Veranstaltungen.

Die Schelling hat auf diesen skandalösen Eingriff reagiert und selber die Initiative ergriffen. Es wurde eine Stelle eingerichtet, der heimliche Videoüberwachungen gemeldet werden können: meldestelle.mtmedia.org. Ein eigener Arbeitsbereich innerhalb des Wohnprojekts, der den Kontakt zu anderen Wohnprojekten pflegen und Aufklärungsarbeit in diesem Thema leisten soll, wurde ebenfalls ins Leben gerufen.

Moritz und Chaim sagen: "Im Nachhinein bleibt ein sehr ungutes, diffuses Gefühl". Vielen Gästen mussten sie mitteilen, dass diese möglicherweise überwacht wurden. Und auch für das gute Nachbarschaftsverhältnis ist Überwachung nicht gerade förderlich. Die weiteren Schritte werden nun sein, durch konkrete Nachfragen Klarheit zu schaffen. Wurde das Material nun ausgewertet oder nicht? Diese und viele weitere Fragen gilt es zu klären. Die Schelling ist zudem im Gespräch mit einem Anwalt, um rechtliche Schritte einzuleiten. Sie wünschen sich Konsequenzen jenseits von "Da haben wir dazugelernt"; am besten personelle Konsequenzen im Hinblick auf den Umgang des Chefs der Staatsanwaltschaft mit dem Eingriff.

Die Öffentlichkeit ist sehr an dem Thema interessiert. Es gab bereits Presseanfragen des Tagblatts, des GEA, des RTF, der Zeitung "neues deutschland", der taz, des Blogs netzpolitik.org und des Radiosenders Dreyeckland aus Freiburg. Das zeigt, dass die Überwachung ein Skandal auf überregionaler Ebene war.

Das Thema ist brandaktuell. Von der grün-schwarzen Landesregierung wurde erst kürzlich ein neuer Gesetzesentwurf zur Erweiterung der Telekommunikationsüberwachung vorgelegt. "Wir gehen an die Grenze des verfassungsmäßig machbaren". So kommentierte Kretschmann den Entwurf. Es wäre eines der schärften Polizeigesetze überhaupt.

Der Gesetzesentwurf spricht von einer "präventiven Telefon- und Quellen-Telekommunikationsüberwachung". Präventiv bedeutet, dass alle, die lediglich einer Straftat verdächtigt werden, überwacht werden dürfen. Quellen-Telekommunikationsüberwachung impliziert die Einführung eines Staatstrojaners. Der Trojaner ermöglicht vollen Zugriff auf alle Inhalte eines Smartphones und die externe Bedienung des Geräts (Screenshots, Audioaufnahmen, Kamera etc.). Desweiteren beinhaltet der Entwurf die Einführung elektronischer Fußfesseln und intelligenter Videoüberwachung. Letzteres bedeutet, dass die Überwachungskameras auf Verhaltensmuster scannen.

Der Datenschutzbeauftragte bemängelte den Entwurf. Auf welche Muster soll die intelligente Überwachung reagieren? Auf jede kurz stehen gelassene oder vergessene Tasche? Auf jede Rangelei unter Jugendlichen? Auf jeden, der auf den Zug rennt? Und nach welchen Mustern soll das Datenmaterial gefiltert werden? Viele Fragen, die auf eine mangelhafte Empirie hindeuten.

Die Landesregierung begründet den Gesetzesentwurf mit Terrorismus. Dabei ist Terrorismus genau das, was nicht nach einem Muster funktioniert. Weder Herkunft noch Motivation der Täter folgt einem Muster. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern und mal sind es rechtsmotivierte, mal mit der Religion begründete Anschläge. Moritz kritisiert, dass die Sicherheitspolitik nicht die Ursachen, sondern nur die Symptome bekämpfe.


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